Donnerstag, 5. Juni 2014

Über Protest, Moral und demokratische Kultur



Im Folgenden möchte ich auf ein Problem öffentlicher Diskussionen eingehen, dass sich vor allem in demokratisch verfassten politischen Systemen stellt. Öffentlichkeit ist, wie immer wieder betont wird, ein konstitutiver Bestandteil von demokratisch verfassten politischen Systemen. Inzwischen spricht man auch häufig von Transparenz. Öffentlichkeit und Transparenz werden heute gerne als Werte an sich verkauft. Unklar bleibt aber zumeist in welcher Beziehung Öffentlichkeit und Demokratie eigentlich zueinander stehen. Zuletzt zeigte sich dies in der Diskussion um die NSA-Überwachung. Die Überwachung wurde als Gefährdung der Demokratie betrachtet. Dabei parasitiert die NSA nur an einem technischen Verbreitungsmedium, dass es überhaupt erst ermöglicht eine globale Öffentlichkeit herzustellen. So fragte man sich bei vielen NSA-kritischen Beiträgen, denen als Lösung nicht viel mehr einfiel als das Internet selbst zu verteufeln, was die Aufregung eigentlich soll? Öffentlichkeit stellt Beobachtbarkeit von Themen und Personen her und der Beobachter weiß wer wofür steht. Man könnte also vermuten, dass das Internet in dieser Hinsicht die größte technische Errungenschaft zur Demokratisierung der Weltgesellschaft seit dem Buchdruck ist. Nicht ohne Grund wollen Machthaber in Diktaturen oder gelenkten Demokratien Plattformen wie youtube, Twitter oder Facebook verbieten. Sie gefährden den mühsam gepflegten Anschein der Alternativlosigkeit bzw. der Zwangsläufigkeit des eigenen politischen Programms. Das Internet als technisches Verbreitungsmedium erzeugt dagegen Kontingenz und fördert dadurch den für Demokratien notwendigen Wettkampf der Ideen. Dieser öffentlich inszenierte Wettkampf der Ideen ersetzt den gewaltsamen Kampf mit Waffen und ermöglicht so einen gewaltlosen Wechsel der Regierung. Autokraten sind jedoch in der Illusion der eigenen Alternativlosigkeit gefangen, in der ein Wechsel der Regierung nicht vorgesehen ist. Entsprechend bedrohlich muss daher ein Verbreitungsmedium, wie das Internet wirken. Es stellt den unkontrollierten Informationsumschlag [1] sicher und es können Alternativen entdeckt werden, die Autokraten konsequenterweise als Bedrohung ihrer Machtposition wahrnehmen müssen.


Nun soll aber genau diese durch das Internet hergestellte Öffentlichkeit zugleich die größte Gefährdung der Demokratie sein? Der angebliche Grund dafür ist, dass sich zu den vielen Beobachtern einer gesellt hat, von dem man der Meinung ist, er darf nicht mitbeobachten – die National Security Agency. Sicherlich findet diese Beobachtung im Geheimen statt, also unbeobachtbar. Aber die Beobachtung durch die NSA erfolgt letztlich nicht geheimer oder öffentlicher als diejenige anderer Beobachter. Denn wir können immer nur annehmen, dass andere Beobachter ebenfalls beobachten, also das Internet benutzen. Aber dabei beobachten kann man sie nicht. Lediglich die Spuren, die im Internet beobachtbar sind, lassen darauf schließen, dass man nicht der einzige Beobachter ist. Das politische Problem, dass die NSA aufwirft, besteht lediglich darin, dass sie einen privilegierten Zugang zu bestimmten Kommunikationsspuren hat, die nicht jeder beobachten kann. Wobei auch dieses Privileg weniger auf institutionellen Vorkehrungen, sondern auf technischem Wissen beruht, über dass auch Personen verfügen, die nicht für eine Regierungsorganisation arbeiten, sondern eher freischaffend tätig werden. Üblicherweise nennt man solche Personen Hacker. Und obwohl vermutlich das Risiko wesentlich größer ist Opfer von Cyberkriminalität zu werden als durch eine Regierungsorganisation erpresst zu werden, arbeitet man sich nur an letzterem ab, obwohl man damit auch für die Abschaffung der technischen Voraussetzungen plädiert, welche die Aufklärung von Cyberkriminalität überhaupt erst ermöglicht. So tragen derartige Kampagnen gegen die NSA ironischerweise dazu bei die Funktionsfähigkeit demokratischer Systeme nachhaltig zu gefährden, weil man im Namen der Demokratie die Abschaffung der effektivsten Form von Öffentlichkeit empfiehlt. Es konnte noch kein einziger Fall der Einflussnahme auf die öffentlichen Meinungsbildungsprozesse durch die NSA nachgewiesen werden. Das im Feuilleton häufig gezeichnete Bedrohungsszenario für die Demokratie entbehrt im Anbetracht des Zeitraums, den die NSA-Beobachtung bereits durchgeführt wird, jeglicher Grundlage [2]. Durch die Verzichtsempfehlungen oder nur die Begrenzung des Informationsumschlags wird aber die demokratische Willensbildung selbst zu einer Art Arkanprinzip, also zur Geheimsache. Geheim ist aber nur die Stimmabgabe selbst, nicht jedoch der Prozess der Meinungsbildung, der letztlich nur über den öffentlichen Wettkampf der Ideen realisiert werden kann. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof über das „Recht auf Vergessen“ werden inzwischen Stimmen laut, die in diesem Recht weniger ein Instrument zum Schutz der Privatsphäre und der Persönlichkeitsrechte sehen, sondern vielmehr ein Instrument zur Zensur der Internetangebote. Durch diesen egozentrisch verzerrten Blick auf die Spähaffäre werden die politischen Konsequenzen der Maßnahmen zum Schutz der Persönlichkeit für die Funktionsfähigkeit der Demokratie aktuell viel zu wenig beachtet. Wenn die Privatsphäre als schützenswerter angesehen wird als Öffentlichkeit, wird dies die demokratische Verfassung des politischen Systems früher oder später untergraben. Zuleich wird einem autokratischen Poltikverständnis in die Hände gespielt.

Demokratie lebt vom öffentlichen Wettbewerb der politischen Ideen. Dieser Wettbewerb muss öffentlich ausgetragen werden, damit man weiß, welche Ideen überhaupt zur Abstimmung stehen und welche Personen sie vertreten. Ohne die Beobachtbarkeit der politisch relevanten Informationen, die es den Bürgern ermöglicht eine reflektierte Wahlentscheidung zu treffen, kann eine Demokratie nicht funktionieren. Wenn es nicht mehr möglich ist eine solche reflektierte, also Alternativen abwägende, Entscheidung zu treffen, besteht das Risiko, dass der friedliche Wettkampf der Ideen wieder in eine gewaltsame Auseinandersetzung kippt. Eine Beobachtung dieses friedlichen Wettbewerbs durch die NSA sollte schon allein deswegen nicht problematisch sein, weil er sowieso öffentlich ausgetragen werden muss. Und selbst wenn die NSA die politische Gesinnung einer Person kennen sollte, dürfte dies kein Problem sein solange sich der Wechsel der Machthaber trotzdem gewaltfrei vollzieht [3]. Erst politische Gesinnungen, die für einen Wechsel der Regierung durch Gewalt plädieren, gewinnen auch in Demokratien eine politische Relevanz. Für diesen Zweck besitzen Geheimdienste auch in einem demokratischen System ihre Berechtigung.

Was im Zuge dieser geradezu paranoiden Fixierung vieler Massenmedien auf die NSA übersehen wird, ist der Umstand, dass es auch im Rahmen des demokratischen Wettbewerbs möglich ist mit Ideen zu gewinnen, die für die Abschaffung der Demokratie plädieren. Diese Lehre aus der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 ist in Deutschland bis heute nicht gezogen worden. Und im Anbetracht der starken Gewinne europakritischer Parteien bei der Wahl des EU-Parlaments wird uns gerade wieder vor Augen geführt, dass auch heute noch das Risiko besteht, dass ein demokratisch verfasstes politisches System auch den Parteien eine Chance gibt, die es eigentlich abschaffen wollen. Dieses Risiko, dass sich die Demokratie auf demokratischem Wege selbst abschafft, lässt sich niemals ausschalten. Doch anstatt dieses Risiko ernst zu nehmen, gibt man sich immer noch einer Jahrhunderte alten deutschen Tradition hin: dem ewigen Protestantentum gegen die westliche Zivilisation. Wobei der Westen üblicherweise mit den Vereinigten Staaten von Amerika gleichgesetzt wird. Der häufige Vergleich der USA mit einem Imperium wie dem Römischen Reich ist in diesem Zusammenhang nicht ganz zufällig. Er stellt eine historische Kontinuität zum Vorgänger der westlichen Zivilisation her. Diese Kontinuität wurde bereits von Thomas Mann in seinen „Betrachtungen einen Unpolitischen“ (2012 [1918]) beschrieben. Und auch er reihte sich mit seiner Schrift in die Reihe der Protestierenden ein, denn er betrachtete die westliche Kultur, die damals im Wesentlichen für Demokratie und den friedlichen Wettbewerb der Ideen stand, als dem deutschen Wesen nicht entsprechend. Der Freiheit des Geistes verpflichtet, fehle den Deutschen nach Mann ein Bewusstsein für das Politische. Es ist des Deutschen nicht würdig, sich mit solchen profanen Themen auseinander zu setzen, denn er ist mit höheren Dingen beschäftigt. Deswegen kann auch die Demokratie nicht das richtige politische System für Deutschland sein. Dieser Ansicht war Mann während des Ersten Weltkriegs und deswegen auch ein Befürworter desselben. Erst die Erfahrung mit den Nationalsozialisten veranlasste Mann dazu seine Haltung gegenüber der Demokratie zu ändern.

Heute beschreiben sich die Deutschen als Demokraten und doch können sie das protestieren nicht lassen. Viele der Argumente die Mann damals gegen die westliche Kultur in Anschlag brachte, hört man heute wieder. Nach wie vor wird gegen die westliche Kultur protestiert. Der Unterschied ist jedoch, dass man inzwischen annimmt, dass die USA keine Demokratie sind, sondern ein totalitäres Regime, das die Wahlfreiheit zum Zwang gemacht hat und es auch allen anderen mit Gewalt aufzwingen will. Was für eine Wendung! Obwohl man heute eigentlich annehmen könnte, dass es keinen Grund mehr zum Protestieren gibt, weil alle demokratischen Werte realisiert wurden, wird immer noch protestiert. Grund dafür ist der typisch deutsche Hang zum Absoluten, man ist sogar versucht zu sagen zum Totalitären [4]. Die Deutschen sind immer wieder bestrebt in allem die Besten zu sein. Doch gerade in solchen Versuchen in allem die Besten zu sein, schießt man immer wieder weit über das Ziel hinaus. Die jeweiligen Werte, an die man bereit ist zu glauben, werden in gleichsam kindlicher Naivität ausgelegt. Das bedeutet, die Werte werden maßlos idealisiert. Geschieht dies auch mit den Werten, die eigentlich das Funktionieren eines demokratischen Systems garantieren sollen, werden auch diese Werte pervertiert. Sie werden nicht mehr in Beziehung zu einander gesetzt, sondern nur isoliert in ihrer Absolutheit betrachtet. Das Ergebnis sind Wertkonflikte und plötzlich heißt es: Freiheit oder Sicherheit, Öffentlichkeit oder Privatsphäre, Repräsentation oder Mitbestimmung. Man wird vor falsche Alternativen gestellt, zwischen denen man sich entscheiden müsste. Statt pragmatischem Sowohl-als-auch heißt es dogmatisch Entweder-oder. Kompromisse gibt es nicht. Am Ende geht es nicht mehr darum, wofür man sich entscheidet, sondern nur dass man sich entscheidet. Auf diese Weise wird die innere Spaltung, egal ob sozial oder psychisch, in Freund und Feind vorangetrieben. Nur unter großen Schwierigkeiten lässt sich diese Spaltung heute noch mit einer Gemeinschaftsideologie zusammenhalten. Zugleich werden damit die nächsten falschen Alternativen zugemutet: Individualismus oder Kollektivismus, Egoismus oder Altruismus, Faschismus oder Demokratie. Aufgrund der moralischen Konnotationen, die sich durch alle diese Alternativen ziehen, wird einem indirekt schon nahe gelegt, wie man sich zu entscheiden habe. Ansonsten ist klar, dass man nur ein Feind der Deutschen Demokratischen Gesinnungsgemeinschaft sein kann.

Wie unter diesen Bedingungen ein Wettbewerb der Ideen stattfinden soll, bleibt schleierhaft. Wenn aufgrund eines vorab unterstellten Konsenses bereits von vorn herein klar ist, wie man sich zu entscheiden habe, weil man ansonsten zum politischen Feind gehört, dann hat das nichts mit Wahlfreiheit zu tun, sondern ist psychologische Erpressung. Man wird vielleicht nicht körperlich bedroht. Dafür wird das Image durch öffentlichkeitswirksame Angriffe, wie Nazi- oder Faschismus-Vorwürfe, kleinkarierte Korruptionsvorwürfe oder ein Plagiatsverdacht, bedroht. Darüber hinaus wird jede individuelle Lebensentscheidung, zur politischen Schicksalsfrage der ganzen Gemeinschaft hoch stilisiert, sei es die Wahl des Berufs, die Wahl des Lebenspartners, die Wahl der Kleidung oder der Lebensmittel etc.. Wenn jedes Thema als Katalysator benutzt werden kann, um Freund und Feind voneinander unterscheiden zu können, dann ist keine demokratische Diskussionskultur mehr möglich. Demokratie ist nur dann möglich, wenn man alles sagen kann, ohne dass man sofort Angst haben muss, dass der Mensch oder seine soziale Konstruktion als Person Schaden nimmt. Das ist der Sinn und Zweck der Meinungsfreiheit. Was sich jedoch in Deutschland zeigt, sind die Folgen, wenn unpolitische Geister anfangen Politik zu machen. Statt sich auf das demokratische Spiel einzulassen und für die eigenen Ideen zu werben, wird durch eine starke Moralisierung der Themen die Aufmerksamkeit zu sehr auf die beteiligten Personen gelenkt. Statt die eigenen Ideen auch gegen Kritik zu verteidigen, werden nur die Ideen der anderen schlecht gemacht. Durch diese Fokussierung auf Personen wird der thematische Fokus immer mehr erweitert bis selbst belanglose Themen des Alltags zu einer Frage von Freund oder Feind werden.

Die Erosion der Demokratie ist die Folge, wenn man denkt, alles sei politisch. Das Politische in Form der Freund-/Feind-Unterscheidung wird entgrenzt. Es diffundiert aus dem gesellschaftlichen Funktionssystem Politik in jegliche Kommunikationszusammenhänge und vergiftet die zwischenmenschlichen Beziehungen. Auf Kritik wird nicht mehr kühl und sachliche reagiert, sondern emotional und sehr persönlich. Der friedliche Wettbewerb der Ideen, der mit Worten ausgetragen wird, verwandelt sich in ein genervtes Angezicke und wird zur psychologischen Zumutung. Eine Flut an Relativierungen, Bagatellisierungen, Ablenkungen, Pseudo-Moralität, Verleumdungen und Pathologisierungen werden routinemäßig abgespult bis man nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht. Ein Thema wird solange zerredet bis nur noch die Personen im Mittelpunkt stehen. Am Ende gewinnt nicht das bessere Argument, sondern das größte Arschloch, das seine politischen Gegner zur Unterhaltung seiner Anhänger am besten moralisch verunglimpfen kann. Es wird nur noch der Hass der eigenen Anhänger geschürt und auf den politischen Gegner gelenkt. Man predigt nur noch zu den eigenen Anhängern, anstatt zu versuchen Neue dazu zu gewinnen. Eine derartige Strategie führt früher oder später in eine defensive Position. Trotzdem wird die Verantwortung für den eigenen Misserfolg weiterhin der Umwelt zugerechnet. Dieser Kreislauf zwischen Versagen und Projektion setzt eine selbstverstärkende Dynamik in Gang. Auf diese Weise kann jede demokratische Diskussionskultur in eine Hasskultur pervertiert werden, in der der symbolische Ausschluss aus der Gesinnungsgemeinschaft als Druckmittel benutzt wird. Anstatt die Meinungsverschiedenheiten anzuerkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wird unter der Einheitsillusion die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben [5].

Man hat es hier mit einer anderen Art von Schweigespirale zu tun [6]. Sie wird nicht durch die Orientierung an vermeintlichen Mehrheitsmeinungen vorangetrieben, sondern durch die Angst, dass man selbst als der politische Feind beobachtet werden könnte. Auf diese Weise entmutigt man nachhaltig die Partizipation an politischen Diskussionen. Die fehlende Motivationskraft der Europäischen Demokratien wird auch als Postdemokratie bezeichnet (vgl. Crouch 2008). Dies hat allerdings nichts mit der Wirtschaft zu tun – gerne auch als Kapitalismus oder Neoliberalismus denunziert –, sondern damit, wie man miteinander kommuniziert [7]. Diejenigen, die sich trotzdem an politischen Diskussionen beteiligen, fügen sich einem Anpassungsdruck hin zu politisch korrekten Botschaften, die sich jedoch kaum voneinander unterscheiden, obwohl sie von Vertretern unterschiedlicher Parteien kommen. Hinzukommt dass nach und nach immer mehr Themen der öffentlichen Diskussion entzogen werden, um sich nicht dem Risiko auszusetzen als Feind beobachtet werden zu können. Diese Schweigespirale wird durch den polemogenen, also konflikterzeugenden, Charakter der Moral erzeugt. Moral verhindert eine differenzierte Auseinandersetzung mit den politisch relevanten Themen und reduziert Politik auf einen Konflikt zwischen Personen, bei dem jeder persönliche Angriff nur zur Belustigung der eigenen Anhänger dient. Hass macht blind – auch für die eigenen Probleme. Jedes Problem wird solange zerredet und ironisiert bis man völlig die Orientierung verloren hat. Dann bleibt als letzte Entscheidungshilfe nur noch die Sympathie für denjenigen, der die eigenen Ressentiments am besten bedient. Moralisierung wird damit zu einer Ausweichstrategie, mit der man dem Wettkampf der Ideen aus dem Weg gehen und auf der anderen Seite doch so tun kann, als würde eine demokratische Auseinandersetzung stattfinden. Neben der schleichenden Politisierung der Alltagskommunikation kommt es auch zu einer Entpolitisierung der Politik.  Die andere Seite dieser Schweigespirale ist dann eine Spirale ungebremster Geschwätzigkeit. Während das Publikum entmutigt wird sich einzumischen, ergehen sich die Protagonisten in inhaltsleeren Wortgefechten. Was als Kampf um die Köpfe geplant war, mutiert zu einer Art Gehirnwäsche. Moral reduziert jedes Thema auf die Frage nach der Verantwortlichkeit und spielt – sofern diese Kommunikation verfängt – mit den Schuldgefühlen der Adressaten. Diese emotionale Erpressung zwingt in der Konsequenz auch zu einer emotionalen Entscheidung. Mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun. Konflikte regen eigentlich die Reflexion an. Wird aber Kritik nur noch als persönlicher Angriff betrachtet, muss ein Konflikt in einen unendlichen Regress von Angriff und Gegenangriff führen.

Es ist offensichtlich, dass unter diesen Rahmenbedingungen keine demokratische Kultur möglich ist, obwohl das politische System rein formell demokratisch ausgestaltet ist. Die Drohung oder Ausübung von Gewalt durch eine staatliche Einrichtung ist dann nicht mehr notwendig, um Konformität in jeder Situation durchzusetzen. Es reicht schon die Möglichkeit, dass das Freund/Feind-Schema zur Beobachtung durch demokratisch letztlich nicht legitimierte Beobachter öffentlich eingesetzt wird, um die gewünschte Konformität zu erzwingen. Symbolische Gewalt wird spätestens dann ausgeübt, wenn jemand als politischer Feind beobachtet wird. Solange man es allerdings für legitim hält symbolische oder sogar physische Gewalt einzusetzen, um bestimmte Ziele zu erreichen, wird sich keine demokratische Kultur in Deutschland durchsetzen. Den Unpolitischen fehlt ein Bewusstsein für das Politische und deswegen sind sie auch die größte Gefahr für die Demokratie. Deswegen wird vermutlich auch heute noch in vielen Kreisen ein unkritisches Revolutionspathos gepflegt. Es harmoniert sehr gut mit dem ewigen Protestantentum. Es gilt aber zu bedenken, dass eine Revolution in einer Demokratie eigentlich keine politische Option mehr ist. Revolutionen waren niemals gewaltfrei und haben sich niemals in demokratischen Systemen ereignet. Demokratie sichert die gesellschaftliche Evolution durch einen gewaltlosen Wechsel der Regierung. Wenn man es allerdings nicht lassen kann selbst in einer Demokratie das ganze Leben zu politisieren und jegliche noch so belanglose Entscheidung zur Frage nach Freundschaft oder Feindschaft aufzublasen, dann kann auch jede formal noch so perfekt ausgestaltete Demokratie kaputtgespielt werden. In dieser Form der öffentlichen Auseinandersetzung zeigt sich eine tiefe Unfähigkeit zur zivilisierten Austragung von Konflikten. Gerade die Versuche die bestehenden gesellschaftlichen Konflikte in der beschriebenen Weise zu unterdrücken, verschärfen diese noch weiter. Die Lösung dieses Problems klingt zunächst ziemlich einfach. Sie liegt in der Entpolitisierung bzw. Entmoralisierung jeglicher Kommunikation. Das bedeutet nichts anderes als davon abzusehen überall nach Feinden und Hassobjekten zu suchen. Protest lebt jedoch von starken Feindbildern und Hassobjekten. Sie geben auf relativ einfache Weise Orientierung und Sicherheit. Im Anbetracht der beträchtlichen Dauer, wie lange in Deutschland diese unsägliche Tradition des Protestierens bereits praktiziert wird, kann man allerdings Zweifel bekommen, ob eine Veränderung der Kommunikationskultur gelingt bevor wir vor der nächsten Revolution stehen.

Unter diesen Voraussetzungen versteht man allerdings auch die NSA-Kritiker besser. Einer der Vorwürfe gegen die NSA lautete ja, dass durch die flächendeckende Überwachung jeder Bürger erpressbar wird. Da sie aber auch selber diese gesamtgesellschaftliche Politisierung der Diskussionskultur vorantreiben, tragen sie gerade nicht zu einer Demokratisierung bei, sondern bestärken nur das eh schon sehr tief sitzende Misstrauen. Mithin ist der NSA-Protest häufig selbst Ausdruck dieses Misstrauens und nährt es nur noch weiter. Wenn man nun noch bedenkt, dass die NSA-Kritiker selbst mit der moralischen Erpressung der Bürger arbeiten und den Hass kanalisieren, versteht man, warum gerade die NSA-Kritiker so große Angst vor den diskreditierenden Informationen der NSA-Überwachung haben könnten. Die größten Moralapostel sind häufig am meisten erpressbar. Öffentlich Wasser predigen und im Privaten Wein trinken. So zeigten gerade die Enthüllungen über den Pornographie-Konsum von Osama Bin Laden die ganze Heuchelei der Al-Quaida-Propaganda. Insofern ist die Angst der NSA-Kritiker vielleicht sogar berechtigt. Denn was sich hinter der ganzen Kritik an NSA und Internet verbirgt, ist nichts weiter als der Wunsch alles tun und lassen zu können ohne irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen [8]. Wenn man allerdings in der Öffentlichkeit auftritt, läuft man Gefahr, dass das eigene Verhalten an den eigenen Aussagen gemessen wird. Diskrepanzen zwischen Reden und Handeln führen immer zu einem Imageschaden. Auf diese Weise diszipliniert Öffentlichkeit bzw. die eigene Beobachtbarkeit das eigene Verhalten. Denn genau das Risiko, sein Image zu beschädigen, verhindert, dass jeder machen kann, was er will. In dieser Form sind die disziplinierenden Effekte von Öffentlichkeit sogar gesellschaftlich notwendig, um eine gewisse Ordnung und Erwartungssicherheit zu gewährleisten. Das gilt auch ohne NSA. Doch gerade unter dem durch die NSA-Kritiker mitgeschaffenen Kommunikationsklima wird das eigene Image zum größten Einsatz. Bei dieser kompromisslos verfolgten Alles-oder-Nichts-Strategie wird jede kleine Diskrepanz zur Frage über das soziale Leben oder den sozialen Tod der eigenen Person. Kein Wunder also, dass die NSA-Kritiker ein Problem mit dem Internet haben. Es geht ihnen gar nicht um die NSA, sondern um die durch das Internet geschaffene Öffentlichkeit, welche ihre eigene Macht bedroht. Entsprechend blank liegen die Nerven und entsprechend wild schießen die Verschwörungstheorien ins Kraut. Man könnte sich nun damit trösten, dass diese undifferenzierte NSA-Kritik kaum verfängt. Beruhigen kann es trotzdem nicht, denn der eigentliche Effekt ist weniger ein deutschlandweites Aufbegehren gegen die NSA-Überwachung. Wer die Kommentarspalten der Online-Medien liest wird der offene Anti-Amerikanismus nicht entgangen sein. Wie es scheint hat die NSA-Kritik vor allem zum Erstarken streng nationalistischer Sichtweisen beigetragen. Genau ein Jahr nach den Enthüllungen von Edward Snowden muss daher ein ernüchterndes Fazit gezogen werden: Die NSA-Kritik hat nicht zu einer sachlichen Diskussion über das Funktionieren der Demokratie in Zeiten des Internets geführt, sondern zur Katalyse des Hasses auf die westliche Zivilisation in Gestalt der USA. Der ewige Protest geht weiter…


Kontakt: destination.unkown@gmx.net
Der Beobachter der Moderne auf Facebook und auf Twitter 


[1] Während andere Beobachter den Kontrollverlust durch das Internet als Problem betrachten, wird hier davon ausgegangen, dass genau dies ein Effekt von Öffentlichkeit an sich ist und nicht nur der Öffentlichkeit, die durch das Internet geschaffen wird. Die These vom Kontrollverlust geht implizit von der Annahme aus, dass wir irgendwann mal die Kontrolle über unsere Informationen gehabt hätten. Ansonsten könnte man auch nicht von einem Verlust sprechen. Man kann jedoch nicht kontrollieren, wie bestimmte Informationen durch einen Beobachter oder durch ein Publikum verstanden werden. Das war noch nie der Fall und wird auch niemals der Fall sein. Schon die Besitz-/Eigentumsmetapher beschreibt das Problem nicht angemessen, weil die Informationen immer erst in der Perspektive eines anderen Beobachters zu solchen werden. Die anderen Beobachter zu kontrollieren, hieße entweder ihre Gedanken zu kontrollieren, was unmöglich ist, oder die Sichtbarkeit der Daten, zu denen sie Zugang haben, zu kontrollieren, was durchaus möglich ist. Den vermeintlichen Kontrollverlust als gesellschaftliches Problem zu beschreiben, nährt jedoch Hoffnungen, dass eine solche Kontrolle möglich sei. Ansonsten würde die Rede vom Kontrollverlust einfach keinen Sinn ergeben. Sie bedient damit technokratische Steuerungs- und Interventionsfantasien, die sich bereits in Organisationen und Unternehmen entzaubert haben, an die aber speziell Politiker und naive Interneterklärer immer noch gerne glauben. Da aber Gedankenkontrolle nicht möglich ist, wäre die einzige realisierbare Lösung die Kontrolle des Informationsumschlags via Internet. Werden derartige Maßnahmen durch die Politik ergriffen, wird so etwas normalerweise als Zensur bezeichnet.
Wer also von Kontrollverlust spricht, sollte sich über die politischen Konsequenzen in Klaren sein, wenn er eine solche Problembeschreibung wählt. Sie suggeriert, dass man die Verantwortung für sein Verhalten auf andere übertragen kann und bietet so das Einfallstor für die Legitimation einer paternalistischen und bevormundenden Politik. Das kann kaum die Lösung sein. Wer die Autonomie und Kontrolle über „seine“ Informationen behalten will, muss sich einfach genau überlegen, wie er öffentlich in Erscheinung treten möchte. Die Verantwortung dafür, welche Daten man über sich preisgibt, kann man nicht an andere abgeben. Wer in der Öffentlichkeit steht, sollte sich darüber bewusst sein. Wenn mein Nachbar in meinen Garten sehen kann, dann ist es bestimmt nicht seine Schuld, wenn ich das zulasse. Man denke hier auch an Murphy’s Law: alles, was passieren kann, wird passieren. Wenn man nicht möchte, dass man beobachtet werden will, muss man selbst etwas dagegen tun, denn ansonsten werden andere die Gelegenheit ergreifen. Sich hinterher hinstellen und den anderen die Schuld geben, dass sie die Möglichkeit genutzt haben, die man selbst gegeben hat, ist eine unverschämte Verdrehung des Verantwortungsprinzips.

[2] Durch die Enthüllungen von Edward Snowden gibt es praktischer Weise eine klare Zäsur, die es ermöglicht die Zeiträume der NSA-Überwachung mit und ohne Wissen der Bevölkerung miteinander zu vergleichen. Es ist bezeichnend, dass Sascha Lobo in seiner letzten Kolumne davon spricht, dass erst seit einem Jahr die Grundrechte durch die NSA gebrochen werden. Und was war vorher? Bekanntermaßen läuft diese Überwachung bereits viel länger als ein Jahr. In Lobos Logik wurden also vorher keine Grundrechte gebrochen. Was im Umkehrschluss bedeuten würde, fände die Überwachung nach wie vor im Geheimen statt, würden auch keine Grundrechte gebrochen. An solchen Ungereimtheiten zeigt sich, dass es Lobo nicht um eine Aufklärung der Spähaffäre geht, sondern nur um deren propagandistische Instrumentalisierung für politische Zwecke.

[3] Auf die Theorie, dass durch die NSA-Überwachung die Bürger gesteuert werden können, gehe ich hier nicht weiter ein. Sie kann nur überzeugen, wenn man die Bürger für unreflektierte, triebgesteuerte Idioten hält. Hier fallen die hyperkritischen Beobachter des Feuilletons auf eine Vorstellung herein, die viele PR-Leute, politische Propagandisten und auch viele Journalisten von ihrem Publikum haben. Sie ist die komplementäre und notwendige Vorstellung, um die Illusion der Steuerbarkeit von Menschen aufrecht zu erhalten. In politischer Hinsicht ist die Steuerungsillusion die Vorstellung von Autokraten, damit sie sich einbilden können, sie hätten die Kontrolle über ihre Untertanen. Diese Vorstellung wird mit jeder Revolution und jedem Putschversuch enttäuscht. Mit der aktuellen Krise der Printmedien werden nun Journalisten eines besseren belehrt. Hieraus erklären sich vermutlich auch die vielen technikkritischen Betrachtungen des Internets. Es räumt mit liebgewonnenen Selbstverständlichkeiten und Selbstverständnissen auf. Konnten sich Journalisten früher als vierte Macht in Staate begreifen, führt das Internet heute schonungslos die Machtlosigkeit der etablierten Massenmedien vor. Es wäre äußerst überraschend gewesen, wenn sich diese Entwicklung ohne Widerstände vollziehen würde. Weiterführend zur aktuellen Krise der Massenmedien mein Text „Die Beobachtung der Beobachtung – Exkurs über Massenmedien“. Damit entpuppt sich aber zugleich die gern gepflegte kritische Haltung der Medienvertreter als Bestandteil einer Herrschaftstechnik, deren Fluchtpunkt ein unkritischer, unmündiger, zur Reflexion unfähiger Bürger ist, der durch die Berichte der Massenmedien in Angst und Schrecken über die grausame Welt gehalten wird, die nur die Politik verändern kann. Das die Bürger das auch selber ohne die Hilfe der Politik könnten, wurde schon längst vergessen und damit auch das Ideal des mündigen Bürgers.

[4] Ein passenderer Begriff für das, was oben als das Absolute oder Totale, bezeichnet wurde, ist vermutlich der Begriff Transzendenz. Wobei der Aspekt der Unerreichbarkeit, des Aussichtslosen im Vordergrund steht. Das Streben nach Transzendenz bietet gerade durch die Unmöglichkeit sie zu erreichen die Möglichkeit sich als tragischen Helden zu inszenieren. Der häufig zur Schau getragene melancholische Weltschmerz speist sich aus diesem Leiden und Scheitern an der Welt. Ignoriert man allerdings dieses melancholische Pathos hat man es lediglich mit dem infantilen Starrsinn eines Kindes zu tun, das nicht bereit ist zu akzeptieren, dass sein Verstand und sein Wille in seiner Umwelt ihre Grenzen finden. Nach Perfektion zu streben ist sicherlich nicht verkehrt; sich einzubilden sie zu erreichen allerdings schon. Wenn man im Bewusstsein der Aussichtlosigkeit trotzdem noch versucht Transzendenz zu erreichen, so nennt man das heute einfach idiotisch. Deswegen ist der Melancholiker heute in der entzauberten Welt der Moderne keine erstrebenswerte Figur mehr, sondern nur noch lächerlich. Statt sich reale und erreichbare Ziele zu suchen, kämpft der Melancholiker lieber gegen Windmühlen.

[5] Das Wutbürger-Phänomen muss auch in diesem Kontext betrachtet werden. Wut ist jedoch nicht gerade ein Garant für sachliche Argumentationen. Entsprechend erscheinen die Wutbürger eher als geifernder Mob, denn als engagierte Bürgerschaft. Aufgrund des ziemlich verklärten und romantisierenden Blicks auf diese Proteste wurden die Wutbürger bisher für einen Beleg bürgerschaftlichen Engagements gehalten. Faktisch heben solche Proteste jedoch die demokratischen Verfahren zur Findung kollektiv bindender Entscheidungen aus, wenn Politiker so schwach sind und sich darauf einlassen.

[6] Auf dem ScienceFiles-Blog wurde diese Spirale auch als Diffamierungsspirale beschrieben. Diese Beschreibung richtet den Fokus mehr auf die Methoden, ist aber komplementär zur beschriebenen Schweigespirale, welche der Effekt dieser Diffamierungsspirale ist.

[7] Das größte Missverständnis in Bezug auf das Verhältnis von Politik und Wirtschaft lautet, dass die Wirtschaft die Demokratie aushöhlen würde, weil Demokratie nach anderen Regeln funktioniert als die Wirtschaft. Man müsste also nur die Wirtschaft nach demokratischen Regeln gestalten und dann würde sie besser funktionieren. Mithin ist es genau umgekehrt. Demokratie ist die Übertragung des Prinzips von Angebot und Nachfrage auf die Politik. Welcher Politiker sein Produkt am besten verkaufen kann gewinnt. Dafür ist der öffentliche Wettbewerb notwendig. Wer das beste Angebot gemacht hat, entscheidet der Wähler an der Wahlurne.

[8] Viele NSA-Kritiker predigen indirekt das Prinzip der Verantwortungslosigkeit. Die Verantwortungslosigkeit muss jedoch irgendjemand bändigen. Wer wäre dafür besser geeignet als der Staat? Dem Staat wird die Verantwortung aufgebürdet die Verantwortungslosigkeit seiner Bürger zu bändigen. Jemand anderes hätte gar nicht die Autorität und Macht dafür. Es zeigt sich nochmals, hinter der Kritik an der NSA versteckt sich ein autoritäres Staatsverständnis. 


Literatur 
Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 
Mann, Thomas (2012 [1918]): Betrachtungen eines Unpolitischen. 5. Auflage S.Fischer Verlag Frankfurt am Main

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen