Donnerstag, 11. September 2014

Warum es kein Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegeben kann


„Man kann nicht nicht kommunizieren."
Watzlawick/Beavin/Jackson 2011 [1969], S. 60


Diesen berühmten Satz von Paul Watzlawick haben wahrscheinlich viele schon einmal gehört. Doch wie viele wissen eigentlich, was er genau besagt? Watzlawick und seine Co-Autoren machten mit diesem Satz auf den allgemeinen Mitteilungscharakter allen Verhaltens aufmerksam. Wenn eine Person etwas tut, kann dies von einer anderen Person, die dies beobachtet, als Mitteilung verstanden werden – auch wenn es durch die beobachtete Person gar nicht als solche gemeint war. Trotzdem teilt es der beobachtenden Person etwas mit. Was genau mitgeteilt wird, spielt zunächst keine Rolle. Das hängt von der jeweils beobachtenden Person ab. Man kann aber davon ausgehen, dass die beobachtende Person aus dem beobachteten Verhalten ihre Schlüsse ziehen wird. So lässt zum Beispiel die Kleidung viele Rückschlüsse auf eine Person zu. Das gilt aber auch für Musik, Ernährung, Autos, Sport, die Arbeit und vieles andere. Personen, die sich beruflich auf eines dieser Gebiete spezialisiert haben, können sehr schnell Menschen einschätzen. Der Spruch „Sag mir, was du isst, und ich sag dir, wer du bist.“ lässt sich auf alle diese Gebiete übertragen. Den Experten auf den einzelnen Gebieten kann man daher nur schwer was vormachen. Deswegen ist es auch völlig unnötig sich zu verstellen oder zu verstecken. Das Wissen, wie sich Menschen in bestimmten Situationen verhalten, wird im Allgemeinen als Menschenkenntnis bezeichnet. Jeder muss zu einem gewissen Maße eine solche Menschenkenntnis entwickeln, um Situationen und die beteiligten Personen verstehen zu können. Jegliches Verhalten ist also für einen Beobachter informativ. Auch der Versuch sich nicht zu Verhalten kann als Verhalten gedeutet werden. Deswegen heißt es, man kann nicht nicht kommunizieren.

Im Alltag haben wir diesen Sachverhalt weitestgehend verinnerlicht und verhalten uns entsprechend. Das heißt, wir geben in der Regel keine Informationen über uns preis, die uns in einem schlechten Licht da stehen lassen. Wir überlegen zunächst, wie das von anderen Personen verstanden werden kann, bevor wir handeln. Dieser Sachverhalt gilt auch für die Kommunikation via Internet. Das eigene Verhalten kann von anderen Personen - egal ob bekannt oder unbekannt - beobachtet werden und sie können Schlüsse daraus ziehen. Im Zuge der Enthüllungen über die Internetaktivitäten der NSA hat man allerdings plötzlich gesehen, wie wenig ein Bewusstsein über diesen Sachverhalt, der im Alltag als völlig normal betrachtet wird, in Deutschland verbreitet ist. So war für mich die Empörung über diesen Umstand das Überraschendste an den Enthüllungen über die NSA-Methoden. Die empörten Reaktionen zeigten nur, wie wenig sich die Menschen in Deutschland darüber bewusst sind, dass ihr Verhalten für andere Personen immer informativ sein kann – egal, ob gewollt oder nicht. Dieser Umstand erklärt zugleich, warum es in anderen Ländern nicht zu einer vergleichbaren Empörung gekommen ist.

Egal, ob es das eigene Verhalten auf der Straße oder im Internet betrifft, man hat es nicht unter Kontrolle, welche Schlüsse andere Personen aus dem eigenen Verhalten ziehen. Wenn man zusätzlich noch berücksichtigt, dass man sich nicht nicht verhalten bzw. nicht nicht kommunizieren kann, dann wird deutlich, dass es ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht geben kann. In letzter Konsequenz würde das nämlich bedeuten, dass man juristisch durchsetzen könnte, was andere von einem denken können und was nicht. Allenfalls Redeverbote lassen sich mit Einschränkungen durchsetzen. Denkverbote lassen sich überhaupt nicht durchsetzen. Und in geschützten Räumen kann man immer sagen, was man will. Man denke hier nur an das ärgerliche, aber nicht aus der Welt zu schaffende Phänomen des Tratsches. Es zeigt, dass man Informationen nicht kontrollieren kann. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist daher letztlich nur die Illusion von einigen Kontrollfreaks, die bei dem Gedanken verrückt werden, dass andere sie nicht so sehen könnten, wie sie selbst.

Für Verhalten in der Öffentlichkeit kann daher nur eine Konsequenz gezogen werden. Wer über seine Informationen selbst bestimmen möchte, der sollte sich sehr genau überlegen, wie man in den Augen der Anderen erscheinen möchte und muss sich dann entsprechend benehmen. Es empfiehlt sich daher zu wissen, wie man durch welches Verhalten in den Augen der Anderen erscheint. Wenn man das nicht weiß, dann braucht man sich auch nicht beschweren, wenn die Fremdwahrnehmung von der Selbstwahrnehmung extrem abweicht. Über dieses Wissen verfügt man nicht mit der Geburt, sondern es entwickelt sich in einem stetigen Lernprozess durch Versuch und Irrtum. Auf diese Weise lernt man, wie andere Personen das eigene Verhalten wahrnehmen können. Der Grundsatz, dass man nicht nicht kommunizieren kann, impliziert daher nicht nur, dass es kein Recht auf informationelle Selbstbestimmung geben kann, sondern auch dass es nur eine Pflicht zur informationellen Selbstbestimmung gibt. 

Diese Pflicht kann man aber nur wahrnehmen, wenn man sich dafür interessiert, was andere Leute über einen selbst denken können. Man muss diese Sichtweisen nicht akzeptieren, aber man weiß dann zumindest, warum man von anderen in einer bestimmten Weise wahrgenommen wird. Dann kann man sich immer noch überlegen, ob man so erscheinen möchte, ob man nicht so erscheinen möchte oder ob es einem egal ist. Wenn man nicht so erscheinen möchte, dann muss man das entsprechende Verhalten eben unterlassen. Obgleich man sich weder in positiver noch in negativer Hinsicht von den Ansichten anderer abhängig machen sollte, kann man sie auch nicht komplett ignorieren. Das ist nur die Lösung von selbstverliebten Egozentrikern, die am liebsten anderen diktieren, wie man sie zu sehen hat. Der Kampf um die Deutungshoheit des Selbst sollte aber weder zu Gunsten des Beobachters noch des Beobachteten verschoben werden.

Das Image einer Person ist immer das Produkt des wechselseitigen Verhaltens der beteiligten Personen und es liegt an jedem selbst, ob er den Kampf um die Deutungshoheit des Selbst offen ausbrechen lässt oder lieber um eine Kooperation im Kampf um die Deutungshoheit des Selbst ringt. Doch auch die Kooperation entbindet die Beteiligten nicht von der Pflicht zur informationellen Selbstbestimmung, denn wie man von anderen gesehen wird, bestimmt man maßgeblich durch sein eigenes Verhalten. Nur das kann man kontrollieren und gewinnt so in gewissem Maße eine informationelle Selbstbestimmung. Sich nicht zu verhalten ist allerdings keine Lösung dieses Problems. Da man sich nicht nicht verhalten kann, wäre Nicht-Verhalten der direkte Weg in die informationelle Fremdbestimmung. Man würde den Anderen die Deutungshoheit über sich selbst überlassen.

Diesen Aspekt menschlicher Kommunikation sollte man zur Kenntnis nehmen, bevor man ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung tatsächlich juristisch umsetzt. Man läuft als Gesetzgeber sonst Gefahr rechtliche Ansprüche zu setzen, die sich aber gar nicht durchsetzen lassen oder wenn man sie durchsetzen möchte sehr schnell auf autoritäre Herrschaftsformen zurückgreifen müsste. An der Diskussion über die Persönlichkeitsrechte und Überwachung im Internet hat mich am meisten gestört, dass zu sehr vom Standpunkt der beobachteten Person argumentiert wurde. Das Problem bei einer zu starken Betonung von Persönlichkeitsrechten liegt darin, dass man auf dieselben Argumente zurückgreifen muss, mit denen sich auch Zensurmaßnahmen rechtfertigen lassen, um missliebige politische Meinungen zu unterdrücken. 

Wenn man für ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung argumentiert, besteht die Ironie also darin, dass man eigentlich für eine informationelle Fremdbestimmung durch die Politik argumentiert. Dass man überhaupt auf die Idee kommen kann, dass der Staat einen vor missliebigen Blicken schützen kann, liegt daran, dass sich viele Deutsche immer noch der Illusion hingeben wir seinen eine Gemeinschaft und die Politik ihr Repräsentant, der den Willen der Gemeinschaft umsetzt. Obwohl uns eigentlich jeden Tag vorgeführt wird, dass wir in einer pluralistischen Gesellschaft leben, ist diese nationalistische Illusion nicht tot zu kriegen. Es ist schon eine sehr kuriose Vorstellung von Selbstbestimmung, wenn die eigenen Interessen durch jemand anderes durchgesetzt werden sollen. Wenn aber weder man selbst noch die Politik etwas dagegen tun kann, dass man nicht nicht kommunizieren kann, sollte man sich einfach damit abfinden und erkennen, dass man nur kommunizieren kann. Das heißt eben auch die Pflicht zur informationellen Selbstbestimmung wahrzunehmen. Auch wenn durch Politik und Massenmedien die gegenteilige Erwartung genährt wird, es wird kein weißer Ritter kommen, der Euch das abnimmt. 




Literatur
Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D. (2011 [1969]): Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 12. Unveränderte Auflage Verlag Hans Huber Bern 

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