Samstag, 21. Mai 2016

Negativsprache oder Formkalkül?


Negationen haben bis heute etwas Rätselhaftes an sich. Durch eine Negation wird Etwas in Nichts verwandelt: aus »p« wird »~p«. Aber was bedeutet dieses »nicht-p«? Offenbar soll damit auf etwas anderes verwiesen werden als auf »p«. Aber was genau? Unter »~p« kann man sich nichts vorstellen. Negative Formulierungen lassen sich generell nicht visualisieren. Bei Negationen versagt die Vorstellungskraft. Im Versuch es trotzdem zu tun, wird man zudem mit einer Paradoxie konfrontiert. Gerade wenn man versucht »p« zu negieren, wird man von »p« verfolgt, denn auch mit der Formulierung, die durch eine Negation erzeugt wird, muss man sich auf »p« beziehen. So stellt sich die Frage, was dem Negierten durch die Negation hinzugefügt wird? Schon Ludwig Wittgenstein notierte dazu: 

»Daß aber die Zeichen ›p‹ und ›~p‹ das gleiche sagen können, ist wichtig. Denn es zeigt, dass dem Zeichen ›~‹ in der Wirklichkeit nichts entspricht.« (2003 [1918], S. 36; Hervorhebung im Original)

In meinem Text »Die Regeln der Form« (Walkow 2016) habe ich mich ausführlich mit dem Umgang mit Negationen und Negativität auseinandergesetzt. Es war zugleich eine Auseinandersetzung mit den Schriften zweier Autoren, die sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigt haben. Das waren zum einen George Spencer-Brown und zum anderen Gotthard Günther. Beide haben ebenfalls nach Lösungen für den Umgang mit Nichts gesucht. Spencer-Brown stellte in seinem Buch »Gesetze der Form« (1999 [1969]) einen Formkalkül vor, mit dem es möglich ist, jeden Ausdruck darauf hin zu untersuchen, welche Informationen mitgeteilt werden. Gotthard Günther entwickelte die Idee einer Negativsprache (vgl. 2000 [1979]). Sie blieb allerdings nur eine Idee. Günther ist es nicht gelungen eine Sprache zu entwickeln, mit der es möglich ist die Rolle der zweiten Negation, die G. W. F. Hegel als Akkretion bezeichnete, bei der Evolution von Sprache und Sinn zu beschreiben.

Schon in »Die Regeln der Form« habe ich mich gegen die Negativsprache ausgesprochen. Der Text hatte zum Ziel eine eigene Theorie über Negativität zu entwerfen. Es war kein expliziter Vergleich des Formkalküls mit der Negativsprache. Das möchte ich an dieser Stelle in aller Kürze nachholen. Ich werde mich nur auf den aus meiner Sicht wesentlichen Gesichtspunkt konzentrieren: die Unterscheidung von einfacher Negation und akkretiver Negation. Im Zuge dessen wird auch noch einmal der Leitgedanke von »Die Regeln der Form« deutlich.


Negationen und Sinnerhaltung

Das geistige Phänomen, womit man es bei Negationen zu tun hat, ist die Erhaltung von Sinn (vgl. Luhmann 2005 [1975], S. 41). Die Bezeichnung »geistig« verwende ich im Sinne von Gregory Bateson, der unter Geist ein System zur Transformation von Informationen versteht (vgl. Bateson 1982 [1979], S. 113f.). Durch eine Negation wird eine positive Formulierung in ihr Gegenteil transformiert. Wie bei einem Foto wird gleichsam ein Negativ erzeugt. Obwohl die Informationen über das Dargestellte im Positiv und im Negativ dieselben sind, ist die Darstellung des Negativs im Vergleich zum Positiv invertiert. Der Unterschied, der einen Unterschied macht (vgl. Bateson 1982 [1979], S. 123), liegt also nicht in den mitgeteilten Informationen. Die sind in beiden Varianten dieselben. Darin besteht der sinnerhaltende Zweck einer Negation. 

Der Unterschied, der einen Unterschied macht, liegt bei einer Negation daher in der Form der Darstellung dessen, was mitgeteilt werden soll. Bei einem Foto wird durch die invertierte Darstellung das Dargestellte unter Umständen so stark verfremdet, dass es nicht mehr als dasselbe erkannt wird. Stattdessen kann man das Dargestellte für etwas anderes halten. Das Negativ hat also etwas Trügerisches und kann so zu falschen Schlussfolgerungen darüber verleiten, was dargestellt wird.

Dieser Effekt kann ebenfalls bei sprachlichen Negationen auftreten. Durch eine Negation wird die Aufmerksamkeit scheinbar auf etwas anderes gelenkt. Das birgt die Gefahr, dass man mit der Verwendung von negativen Formulierungen beginnt sich über die eigenen Absichten zu täuschen. Man glaubt etwas anderes zu meinen, obwohl die Negation nur den Sinn des Negierten erhält. Denn trotz einer Vorsilbe wie »nicht-« bleibt der Bezug auf das Objekt »p« bestehen. Gerade bei sprachlichen Formulierungen wird deutlich, dass man sich trotz des Versuchs, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten, von dem Negierten nicht gelöst hat. Es dient immer noch zur sinnhaften Orientierung, da nicht klar ist, was statt »p« gemeint sein könnte. Hier fangen die Probleme des Negationsgebrauchs an.


Negationen und Negativsprache

Gotthard Günther war sich des sinnerhaltenden Zwecks der Negation durchaus bewusst (vgl. Günther 2000 [1979], S. 6). Trotzdem entwickelte er die Idee einer Negativsprache. Ausgangspunkt für diese Idee war seine Beobachtung, dass alles, was ausgedrückt werden kann, positiv ausgedrückt wird. Negative Formulierungen sind zwar nicht unmöglich oder gar verboten. Es gibt aber keine Sprache, die negative Formulierungen zur Konvention gemacht hat. Positive Formulierungen werden in jeder Sprache bevorzugt. Günther bezeichnete solche Sprachen daher als Positivsprachen. Die Wörter der Positivsprachen sind in ihrer Bedeutung, so nahm er an, eindeutig (vgl. Günther 2000 [1979], S. 2). Darin sah er eine gravierende Beschränkung des Bedeutungsreichtums der Wörter, der gerade immer dann, so sein Eindruck, aufzuscheinen beginnt, wenn sie negiert werden. Um der tieferen Verweisungsstruktur der Bedeutungen auf die Spur zu kommen, hielt er eine Negativsprache für erforderlich, die der besonderen Rolle der Negation dabei Rechnung tragen sollte.

Dafür griff Günther eine Unterscheidung wieder auf, die bereits Hegel getroffen hatte. Hegel unterschied zwischen einfachen und  kreativen Negationen. Letztere bezeichnete Hegel auch als Akkretion (vgl. Günther 2000 [1979], S. 8f.). Weil die einfache Negation dem Mitgeteilten nichts hinzufügt, wiederholt sie einfach nur den Sinn der positiven Formulierung. Die kreative Negation belässt es dagegen nicht einfach bei der Wiederholung derselben Mitteilung, sondern schafft stattdessen etwas Neues, eine Gegenidentität zum Negierten, die nicht Nichts ist, sondern etwas anderes. Um diesem Aspekt der zweiten Negation Rechnung zu tragen, benötigte Günther die Negativsprache. Doch obwohl er bei seiner Durchsicht der Philosophie, der Logik, der Kybernetik und der Kenogrammatik sehr viele wertvolle Hinweise gesammelt hat, die zum Verständnis beider Negationsformen hilfreich sind, ist es ihm nicht gelungen die Negativsprache auszuarbeiten. Es blieb bei Hinweisen.

Der Grund dafür könnte Günthers Annahme sein, dass die Wörter der Positivsprachen immer eindeutig signifizieren. Obgleich er gesehen hat, dass menschliche Kommunikationsformen in der Regel mehrdeutig sind (vgl. Günther 2000 [1979], S. 2), fehlte ihm ein theoretischer Ansatz, um zu analysieren, wie dieses Problem praktisch gelöst wird. Günther ging von der Mangelhaftigkeit des Begriffs aus und erhob zugleich die Zahl zum Idealfall der Signifikation (vgl. Günther 2000 [1979], S. 10f.). Diese Vorstellung war der Suche nach einer Lösung nicht zuträglich, denn dadurch war es ihm fast unmöglich sich von der Vorstellung zu lösen, dass alle Zeichen immer eindeutig signifizieren. Der Zweck der Negativsprache besteht im Prinzip nur darin, diese Vorstellung zu negieren.

Aufgrund der Annahme der Eins-zu-Eins-Entsprechung von Zeichen und Bezeichnetem hat Günther übersehen, dass die Mehrdeutigkeit von Begriffen durch die Kombination von Wörtern zu Sätzen reduziert wird und damit hinreichend genau ihre Mehrdeutigkeit wechselseitig einschränken, sodass die Kommunikationspartner wissen, was gemeint ist (vgl. Walkow 2016). Eindeutigkeit wird auf diese Weise zwar noch längst nicht erreicht. Die Unklarheiten können dann aber immer wieder als Anlass für weitere Kommunikation genommen werden. Ob diese dann allerdings klärend oder doch eher verunklarend ist, hängt unter anderem von der Darstellung der mitgeteilten Informationen ab.

Negationen können zwar die negierten Wörter in ihrer Bedeutung öffnen und sie mehrdeutiger machen. Es werden aber nur mögliche, alternative Bedeutungen sichtbar, ohne dass durch die Negation die Bedeutung bereits festgelegt ist. Dies würde eine Entscheidung für eine der alternativen Bedeutungen verlangen. Bei Günther blieb dieser Widerspruch zwischen scheinbarer Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit der Worte, der seinen Überlegungen zugrunde liegt, unaufgelöst.


Negationen und Formkalkül

Dass das Problem der Mehrdeutigkeit durch die Kombination von Wörtern gelöst wird, hilft auf den ersten Blick nicht weiter bei der Frage nach der kreativen Funktion der zweiten Negation. Die Antwort auf diese Frage hat George Spencer-Brown in »Gesetze der Form« (1999 [1969]) gegeben. Ausgangspunkt des Buches ist die Annahme, dass sich Menschen die Welt durch Unterscheidungen erschließen und sich auch durch Unterscheiden anderen Menschen mitteilen, denn durch Unterscheidungen wird die eigene Aufmerksamkeit und die von anderen Menschen auf etwas gerichtet. 

Spencer-Brown gründet seinen Kalkül auf zwei Axiome: das Gesetz des Nennens und das Gesetz des Kreuzens (vgl. Spencer-Brown 1999 [1969], S. 2). Das Gesetz des Nennens beschreibt die Funktionsweise der einfachen Negation. Mit einer einfachen Negation wird Bekanntes wiederholt, auch wenn es anders ausgedrückt wird. Durch einfache Negationen wird also bloß Redundanz erzeugt, denn es handelt sich um ein Wieder-Nennen des Bekannten, wenn auch in anderer Form. Das Gesetz des Kreuzens beschreibt dagegen die Funktionsweise der zweiten Negation bzw. der Akkretion. Etwas lässt sich nur im Unterschied zu etwas anderem Bezeichnen. Dieses Andere muss auch bezeichnet werden. Den Vorgang, nach der ersten Bezeichnung die Zweite zu realisieren, von der sich die erste unterscheiden soll, nennt Spencer-Brown Kreuzen. Somit hängt die Bedeutung der ersten Bezeichnung von der Bedeutung der Zweiten ab und umgekehrt. Den Vorgang, nach der zweiten Bezeichnung wieder die erste Bezeichnung zu realisieren, nennt Spencer-Brown Wieder-Kreuzen.

Zwar sind die Bedeutungen beider Bezeichnungen nach dem Kreuzen zu einem gewissen Grade festgelegt. Gleichwohl sind beide Bedeutungen nicht eindeutig fixiert, denn das hieße nach dem Wieder-Kreuzen exakt dasselbe Objekt zu bezeichnen. Dann würde es sich aber nur um ein Wieder-Nennen handeln. Wird jedoch ein ähnliches Objekt und nicht dasselbe bezeichnet, handelt es sich um ein Wieder-Kreuzen. Wurde mit dem Kreuzen zum Beispiel ein runder Tisch bezeichnet, wurde mit dem Wieder-Kreuzen ein eckiger Tisch bezeichnet. Wenn die Unterscheidung von rund und eckig jedoch noch nicht zur Verfügung steht, erscheint der eckige Tisch sowohl als Tisch als auch nicht als Tisch, denn er ist nicht der runde Tisch. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Spencer-Brown im 2. Axiom schreibt: »Wieder-Kreuzen ist nicht Kreuzen« (Spencer-Brown 1999 [1969], S. 2). Es werden dann weitere Bezeichnungen benötigt, um beide Objekte als Tische zu bezeichnen und sie trotzdem voneinander zu unterscheiden. Darüber hinaus sind die beiden Adjektive nicht an die Beobachtung von Tischen gebunden. Sie lassen sich, sobald sie zur Verfügung stehen, auch auf Stühle, Fenster, Töpfe, Swimmingpools etc. anwenden

Dieses Beispiel zeigt, dass durch das Wieder-Kreuzen die erste Bezeichnung »Tisch« in ihrer Bedeutung scheinbar negiert wird. Es handelt sich aber nicht um eine Negation, sondern um eine Aufhebung (vgl. Spencer-Brown 1999 [1969], S. 5). Aber wie bei einer Negation, steht man auch bei einer Aufhebung vor dem Nichts. Wird jedoch eine weitere Unterscheidung eingeführt, um dasselbe als verschieden zu behandeln, kann der Tisch wieder als Tisch beobachtet werden – nun als eckiger Tisch im Vergleich zu einem runden Tisch. Auch wenn zunächst nur ein Tisch als Eckiger bezeichnet wird, impliziert es zugleich das, wovon das Eckige unterschieden wird – in diesem Fall das Nicht-Eckige, also Runde. Damit ist das akkretive bzw. kreative Moment beschrieben, das Günther durch die Negativsprache beschrieben sehen wollte. Spencer-Brown bezeichnet dieses Ereignis, das die Aufhebung aufhebt, als Kompensation (vgl. Spencer-Brown 1999 [1969], S. 9f.). 

Für das Ergebnis einer Aufhebung hat Spencer-Brown kein extra Zeichen vorgesehen. Es ist eine Leerstelle, die anzeigen soll, dass nichts unterschieden wurde obwohl unterschieden wurde. Dementsprechend bezeichnet er diese Leerstelle als leeren Raum (vgl. Spencer 1999 [1969], S. 6). Sofern man akzeptiert, dass keine Bezeichnung auch eine Bezeichnung ist, drückt der leere Raum das aus, was Wittgenstein als fehlende Entsprechung in der Wirklichkeit beschrieben hatte.

Man beachte außerdem, dass es sich bei »~p« genau genommen bereits um einen zusammengesetzten Ausdruck handelt, denn es werden die Zeichen »~« und »p« miteinander kombiniert. Durch die Kombination wird aber dem einfachen Ausdruck »p« keine weitere Bedeutung hinzugefügt. Der Sinn von »p« wird bei »~p« erhalten. Also kann auf das Zeichen »~« verzichtet werden. Daraus zieht Spencer-Brown die Konsequenz für Negationen und Aufhebungen kein extra Zeichen zu vergeben. Das fehlende Zeichen, die Leere, wird selbst zum Zeichen. Mit dieser Lösung wird die Aufmerksamkeit immer wieder auf den positiven und einfachen Ausdruck gerichtet, der ja dasselbe mitteilt bzw. auf dasselbe verweist, wie der negative und zusammengesetzte Ausdruck. Dieser Sachverhalt wird deutlich, wenn Spencer-Brown den Kalkül für die Logik interpretiert (vgl. 1999 [1969], S. 98f.). Darin wird die Negation »~a« mit dem markierten Zustand »a« gleichgesetzt (vgl. Abb. 1).




Das bedeutet dasselbe wie: ~a = a. Diese Gleichung drückt Spencer-Brown in dem aus, was er als Kanon Null bezeichnet:

»Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind in der Form, identisch gleich.« (1999 [1969], S. ix)

Praktisch bedeutet das, wenn der einfache, positive Ausdruck und der zusammengesetzte, negative Ausdruck zur Verfügung stehen, wird immer mit dem einfachen positiven Ausdruck kalkuliert. Der zusammengesetzte, negative Ausdruck ist immer in seine einfache, positive Entsprechung zu transformieren. Für diese Lösung macht sich Spencer-Brown also den sinnerhaltenden Zweck der Negation zu Nutze. Sollte ein solcher einfacher und positiver Ausdruck noch nicht zur Verfügung stehen, dann muss er durch eine Kompensation geschaffen werden.


Negationen und Informationsverarbeitung

Das Einzige, was sich bei einer Negation durch das Zeichen »~« geändert hat, ist also die Anzahl der mitgeteilten Informationen. Diese haben sich durch die Negation verdoppelt. Für den positiven Ausdruck »p« benötigt man nur eine Indikation. Für den negativen Ausdruck »~p« werden dagegen zwei Indikationen benötigt. Bei einer gelegentlichen Negation spielt die Verdopplung noch keine große Rolle. Stellt man dieses Zeichen jedoch in einem gegebenen Satz jedem einzelnen Wort voran, so würde sich auf einmal die zu verarbeitende Informationsmenge verdoppeln, ohne dass dadurch etwas anderes mitgeteilt würde.

Dieser Überschuss an Indikationen wirkt sich lediglich auf die benötigte Zeit für die Verarbeitung der mitgeteilten Informationen aus. Diesen Effekt kann man als Entschleunigung der Informationsverarbeitung beschreiben, denn für dieselbe Informationsmenge benötigt man nun doppelt so viel Zeit, weil die redundante Pseudo-Information »nicht-« jeweils mit verarbeitet werden muss. Darüber hinaus wird das Mitgeteilte durch die negative, verfremdete Darstellungsweise unter Umständen unnötig verkompliziert, was die psychische Informationsverarbeitung zusätzlich erschwert und ausbremst. Der kumulative Effekt negativer Formulierung kann daher schon größere Auswirkungen auf den Sprachgebrauch haben und zusätzlich Verwirrung über die Absichten der Mitteilungen stiften.

Arbeitet man mit Spencer-Browns Kalkül, macht sich dieser durch negative Formulierungen erzeugte Redundanz-Effekt besonders stark bemerkbar und seine Lösung, auf negative Formulierungen konsequent zu verzichten, sowohl informationstheoretisch als auch pragmatisch so attraktiv. Mit dem Kalkül werden negative Formulierungen, die immer zusammengesetzte Ausdrücke sind, herausgekürzt, eben weil sie aufgrund des sinnerhaltenden Zwecks redundant und damit verzichtbar sind. Stattdessen soll immer mit der einfacheren positiven Version kalkuliert werden. Sollte die Negation jedoch nicht redundant sein, sondern als Platzhalter für den Hinweis auf etwas anderes dienen, so muss die negative Formulierung durch eine einfachere positive Formulierung ersetzt werden, die nicht mehr auf die ursprünglich negierte Position verweist (vgl. Walkow 2016). Erst damit würde die Loslösung vom Negierten auch sprachlich ihren Ausdruck finden.

Die Loslösung von der Negation kann entweder über eine konfirmierende Beschreibung, einen zusammengesetzten Ausdruck, oder über eine kondensierte Bezeichnung, einen einfachen Ausdruck, der Sache geschehen, die nicht Nichts ist. Da die konfirmierende Beschreibung und die kondensierte Bezeichnung auf dasselbe verweisen, sind sie funktional äquivalent. Fehlt jedoch eins von beiden, muss das fehlende funktionale Äquivalent noch ergänzt werden. Bei einer Akkretion wird also auch der Unterschied zwischen einfachen und zusammengesetzten bzw. komplexen Ausdrücken relevant. 

Sofern man sich nur auf Wörter oder Begriffe, also einfache Ausdrücke, und ihre Ein- oder Mehrdeutigkeit konzentriert, muss dieser Aspekt zwangsläufig übersehen werden. Eine Akkretion bedeutet daher, je nach dem was noch fehlt, entweder eine Komplexitätssteigerung oder eine Komplexitätsreduktion. Im obigen Beispiel war der Tisch nach dem Wieder-Kreuzen nicht mehr einfach nur ein »Tisch«, sondern ein »runder Tisch«. Andernfalls wäre er »kein Tisch« gewesen. Es wurden also schon zwei statt einer Indikation benötigt, um die Aufhebung aufzuheben bzw. dasselbe auch als verschieden behandeln zu können. Theoretisch hätte man aber auch mit der konfirmierenden Beschreibung »auf vier Holzstäben stehendes Brett« anfangen können. Empirisch wird der Kalkül dadurch zum Beispiel für den Nachvollzug von persönlichen Lernprozessen oder von evolutionären Entwicklungen verwendbar.


Formkalkül statt Negativsprache

Was sich im direkten Vergleich von Günthers Negativsprache mit Spencer-Browns Kalkül zeigt, ist, dass die Akkretion über den Umweg einer Negation oder einer Aufhebung immer wieder in eine Positivsprache zurückführt. Durch den konsequenten Verzicht auf negative Formulierungen zwingt Spencer-Brown die Nutzer seines Kalküls an die zu kalkulierende Informationsmenge Ockhams Razor anzusetzen und alle überflüssigen und unnötigen Indikationen herauszukürzen. Übrig bleibt dann eine Positivsprache im Sinne von Günther.

Es sollte deutlich geworden sein, dass Spencer-Browns Kalkül damit den Zweck erfüllt, den Günther mit dem Projekt der Negativsprache anvisiert hatte. Gleichwohl dürfte das Ergebnis nicht dem entsprechen, was sich Günther davon erhofft hatte. Man könnte den Kalkül für die von Günther geforderte Negativsprache halten. Gleichwohl lässt sich der Kalkül schwerlich als eine Negativsprache beschreiben, denn er richtet seine Aufmerksamkeit weniger auf den negierenden oder aufhebenden Moment, sondern auf die Kompensation der entstandenen Leerstelle, also den kreativen Moment. Deswegen kann der Kalkül als ein starkes Plädoyer für eine Positivsprache gelesen werden.

Negationen kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Sie fungieren als Platzhalter solange noch keine Bezeichnung für das Andere gefunden wurde (vgl. Walkow 2016). Dass eine Negation gleichsam als Stellvertreter für etwas anderes dienen kann, hatte Günther sogar noch gesehen (vgl. 2000 [1979], S. 14). Sobald die positive Bezeichnung für das Andere gefunden ist, kann auf die negative Formulierung verzichtet werden. Negationen sollten daher sparsam und mit Bedacht eingesetzt werden. Ansonsten können sie schnell vorgaukeln, dass Nichts etwas anderes ist als es selbst. Vergiss man, dass der Negation eine Platzhalterfunktion zugewiesen wurde, kann die Suche zu einer ziemlich unwirklichen Angelegenheit werden, da man dasselbe für etwas anderes hält.


Die Negativsprache als Trugbild

Das gilt schließlich auch für die Idee der Negativsprache selbst. Vereinzelt gibt es noch Versuche Günthers Idee zu verwirklichen. So versuchte Dirk Baecker die Negativsprache sowohl theoretisch zu begründen als auch empirische Belege für ihre Existenz zu finden (vgl. 2016 [2010]). Es ist allerdings nicht damit zu rechnen, dass dies noch gelingen wird, denn die Unterscheidung von einfacher und kreativer Negation spielt bei ihm keine Rolle mehr. Dadurch ist er zu stark auf die Beobachtung von einfachen Negationen fixiert. Wie sich jedoch gezeigt hat, besteht die kreative Negation eigentlich aus zwei Operationsschritten: der Negation und der Kreation. Spencer-Brown würde von Aufhebung und Kompensation sprechen. Konzentriert man sich nur auf die Beobachtung der einfachen Negation, verfehlt man systematisch den kreativen Moment der zweiten Negation und leistet auf diese Weise der Entstehung falscher Vorstellungen über die Funktion von Negationen bei der Sinnkonstitution Vorschub.

Die Unterscheidung von einfachen und kreativen Negationen ist aus meiner Sicht jedoch der Schlüssel zum Verständnis des Zwecks von Günthers Negativsprache. Berücksichtigt man den sinnerhaltenden Zweck von Negationen und die kompensierende Funktion der Positivsprache, dann wird deutlich, dass es nicht möglich ist eine Negativsprache zu entwickeln. Sie wäre ebenfalls wieder eine Positivsprache. Im Sinne von Spencer-Browns Kanon Null könnte man sogar sagen: die Positivsprache ist die Negativsprache.

Mit solch einer paradoxen Formulierung ist jedoch nichts gewonnen. Sie hebt lediglich den Unterschied zwischen positiv und negativ auf und deutet so an, dass die Unterscheidung von Positiv- und Negativsprache nicht notwendig ist. Die damit unterschiedenen Funktionen sind beide Bestandteil derselben Sprache. Wenn Günther die Idee der Negativsprache als Negation der Positivsprache entwickelt hat, dann erweist sich an dieser paradoxen Aussage die sinnerhaltende Funktion der Idee der Negativsprache. Erhalten wird lediglich der Sinn der Sprache bzw. die Selbstreferenz der Günther'schen Unterscheidung. Insofern erscheint es angezeigt, die Unterscheidung von Positiv- und Negativsprache gänzlich aufzugeben, denn sie trennt zwei Funktionen der Sprache, die nur in ihrer Beziehung zueinander verstanden werden können. Unter diesem Gesichtspunkt hat sich die Idee der Negativsprache inzwischen als kontraproduktiv erwiesen, da sie mehr verdunkelt als erhellt. Es gibt daher keinen Grund mehr weiter an Günthers Projekt der Negativsprache festzuhalten. Das Problem, für das er die Negativsprache als Lösung betrachtete, wird mit Spencer-Browns Formkalkül auf pragmatische Weise gelöst. 





Literatur
Baecker, Dirk (2016 [2010]): Negativsprachen aus soziologischer Sicht. In: ders: Wozu Theorie? Suhrkamp Verlag Berlin. S. 78 – 114
Bateson, Gregory (1982 [1979]): Geist und Natur. Eine notwendige Einheit. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Günther, Gotthard (2000 [1979]): Identität, Gegenidentität und Negativsprache. URL: http://www.vordenker.de/ggphilosophy/gunther_identitaet.pdf (letzter Aufruf 12.03.2016)
Luhmann, Niklas (2005 [1975]): Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen. In: ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. 4. Auflage VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden. S. 41 – 57
Spencer-Brown, George (1999 [1969]): Gesetze der Form. 2. Auflage Bohmeier Verlag Lübeck
Walkow, Roland (2016): Die Regeln der Form. URL: http://beobachter-der-moderne.blogspot.com/2016/05/die-regeln-der-form.html (letzter Aufruf 15.05.2016)
Wittgenstein, Ludwig (2003 [1922]): Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main

3 Kommentare:

  1. ¬schlecht, Herr Specht. ;)

    „Zu jedem Gedanken gehört demnach ein ihm widersprechender Gedanke ...“

    – Frege, Gottlob: Die Verneinung: eine logische Untersuchung
    https://de.wikipedia.org/wiki/Negation
    https://de.wikipedia.org/wiki/Aussagenlogik#Verneinte_Aussage_.E2.80.93_Negation

    "Try to pose for yourself this task: not to think of a polar bear, and you will see that the cursed thing will come to mind every minute." // https://en.wikipedia.org/wiki/Ironic_process_theory

    "We do not know what God is. God Himself does not know what He is because He is not anything [i.e. "not any created thing"]. Literally God is not, because He transcends being." // https://en.wikipedia.org/wiki/Apophatic_theology

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  2. - Logik klappt gut bei Aussagen (mit ins Kino? Nein)
    - mittel bei Attributen (nicht dunkel, nicht gelb, nicht an Silvester in Bochum)
    - kaum bei Substantiven (gib den Nicht-Kulli)
    - beware of Füllwort-Nonsense (isso nicht-denn ich sag es, Aller)

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  3. Sinnhaftigkeit ist halt notwendig, aber nicht hinreichend für Zutreffendheit. Ich zitiere aus dem interessanten (tatsächlich) Aufsatz weiter oben:

    "Kritisches Hinterfragen ist zwar grundsätzlich [...] verkehrt. Man sollte es aber [...] so weit treiben, dass es nur noch hinderlich ist."

    (Sowwy for twolling)

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